Monotropism

Variationen des Monotropismus

Dinah Murray und Mike Lesser

Stand 2004

aus dem Englischen von Rainer Döhle

In der normalen Bandbreite der Aufmerksamkeitsverteilung findet sich eine große Vielfalt sowohl zwischen verschiedenen Menschen als auch bei einer einzelnen Person zu verschiedenen Zeitpunkten. Menschen, die für eine Autismus-Diagnose in Frage kommen, befinden sich oft an jenem extremen Ende des menschlichen Spektrums, an dem Menschen wenige bis sehr wenige, dafür tiefe und unwandelbare Interessen haben: sie sind monotropisch. Das Gegenteil von monotropisch stellen die weniger tiefen, dafür breiter verteilten, flexibleren, polytropischen Aufmerksamkeitsmuster dar. In verschiedenen Situationen funktioniert die tiefere Aufmerksamkeit im Gegensatz zur „dünner“ verteilten Aufmerksamkeit anders. Wir glauben, dass die monotropische Disposition auf verschiedene Art und Weise den sozialen Missgeschicken, die mit Diagnosen des autistischen Spektrums einhergehen bzw. den Geschehnissen, bei denen man sich unwillentlich als Autist zeigt, zu Grunde liegt. Die monotropische Disposition kann in vielerlei Hinsicht variieren, was sowohl die Art der Diagnose als auch die Frage, inwieweit das Maß an Abweichung vom Typischen zu einer Diagnose führt, beeinflusst.

Zu den Dimensionen, entlang derer der Monotropismus variieren kann, zählen:

Tiefe des fokussierten Interesses, was mit der Langsamkeit und dem Unbehagen beim Wechsel eines Themas oder eines Aufmerksamkeitsfokus korreliert, wenn ein alternativer Reiz präsentiert wird. Ein langsamer Wechsel der Aufmerksamkeit ist eines der am deutlichsten gesicherten Ergebnisse bei der Untersuchung des Autismus; dies wird manchmal auch als „exekutive Funktionsstörung“ identifiziert. Umfangreiche anekdotische Hinweise legen allerdings nahe, dass ein Potenzial für einen leichten Aufmerksamkeitswechsel besteht, wenn dieser selbst-gesteuert ist. Wohl jeder erlebt bisweilen eine so tiefe Aufmerksamkeitstunnelung, dass ihm alles andere als störend erscheint. Nach einiger Zeit lassen wir dann von dieser intensiven Beschäftigung wieder ab. Was aber für die meisten Menschen eine besondere Erfahrung ist, geschieht bei besonders monotropischen Menschen mehrmals täglich. Diese werden dann oft schmerzhaft und immer wieder in ihrem Tun unterbrochen, solange sie nicht selbst die volle Kontrolle über ihre Welt besitzen. Für diese besonders monotropischen Menschen bewegt sich das Leben immer wieder zwischen besonders intensiven Momenten einerseits, die als eine Belohnung erlebt werden, und Katastrophen andererseits hin und her. Diese Menschen werden auch besonders lange brauchen, um Verbindungen zwischen den fragmentierten Bereichen ihres Erlebens herzustellen, sodass sie auch besonders viel Hilfe dabei benötigen, ein allgemeines Verständnis für das Leben um sie herum zu entwickeln. Zudem werden sie meist auch eine direkte Anrede sowohl als Störung als auch als etwas schwer zu verarbeitendes betrachten, solange sie nicht mit besonderem Einfühlungsvermögen auf ihren jeweiligen aktuellen Fokus abgestimmt ist.
Die Aufmerksamkeit so stark konzentrierter Leute abzulenken, wird in der Regel kontraproduktiv sein, weil man sie damit orientierungslos und verwirrt macht. Auch wenn die Situation vielleicht bei älteren Betroffenen auf Grund von Alter und Erfahrung weniger extrem ist, gilt doch die Devise „den Betroffenen dort abholen, wo er ist“ schon immer als verlässliches Mittel. Den Menschen dort abholen, wo er ist, maximiert die Wahrscheinlichkeit eines für alle Beteiligten angenehmen Erlebens. Besonders monotropischen Menschen werden einem nicht auf halbem Wege entgegenkommen, sondern man muss den ganzen Weg zu ihnen gehen, um mit ihnen zusammenzutreffen. Auf lange Sicht erhält man dafür freundschaftliche Gefühle von Seiten des Betroffenen – und damit die entscheidende Motivation für ein kommunikatives, soziales Miteinander.

Die Breite der Aufmerksamkeit zeigt deutliche Verhaltensunterschiede, die von einer eng fokussierten Person, die glücklich damit ist, sagen wir in dem Erlebnis aufzugehen, das eine kleine Kopfbewegung mit dem damit verbundenen wechselndem Lichteinfall verursacht, bis hin zum Nachvollziehen des Mitgefühls und der generellen Sorge darum, das Richtige zu tun, reichen. Dabei kann es sich natürlich immer auch um dieselbe Person zu verschiedenen Zeitpunkten gehen.
Am engsten fokussiert sind dabei Kinder, die besondere Schwierigkeiten mit der sensorischen Integration haben und die nicht in der Lage sind, Informationen simultan über mehr als einen sensorischen Kanal aufzunehmen. Diese wird man anfangs bewusst dazu überreden müssen, die sie umgebende Welt wahrzunehmen und man wird sie motivieren müssen, mit dieser in Kontakt zu treten. Ihr offensichtlicher Mangel an entsprechendem Engagement ist sehr oft der Anlass für eine entsprechende Diagnose. Sie sind vermutlich auch oft extrem monotropisch. Verbunden mit einem extrem engen Fokus kann dies alle Versuche, soziale Verbindungen zu erzeugen, sofern solche Versuche nicht haargenau auf sie abgestimmt sind, untergraben.


Vertrauen und verfügbare Aufmerksamkeit
Die Menge der verfügbaren Aufmerksamkeit variiert sowohl zwischen verschiedenen Menschen als auch innerhalb einzelner Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten – Vertrauen hat in beiden Fällen zu jedem bestimmten Zeitpunkt und auch über eine Zeitspanne hinweg einen Einfluss. Vertrauen maximiert die verfügbare Aufmerksamkeit auf zweierlei Weise: es ist mit einem positiven Affekt beladen und daher von Natur aus motivierend. Somit vergrößert es das erregte Interesse über die Aktionsschwelle hinaus. Ereignisse dagegen, die das Vertrauen beschädigen, haben zur Folge, dass alle Aufmerksamkeit auf einen schmerzhaften Fokus gelenkt wird, wodurch die Tendenz, sich nicht nach außen zu wenden und keine Kontakte zu suchen, verschlimmert wird. Nicht in der Lage zu sein, mit vertrauensvoll voranzuschreiten, verringert den eigenen Horizont der Möglichkeiten. Das hat einen wesentlichen Einfluss auf den folgenden Punkt.
Vertrauen beruht auf Verstehen durch Wahrnehmung. Immer wieder einfach nur „gut gemacht!“ zu sagen mag zwar dem Selbstwertgefühl des Betroffenen förderlich sein, muss aber keinesfalls immer dem Aufbau von Kompetenz dienlich sein. Was Vertrauen aufbaut sind erfolgreiche Erfahrungen, insbesondere erfolgreiche Wagnisse. Ein subjektiv erfolgreiches Ereignis besteht darin, dass die eigenen Hoffnungen erfüllt werden, egal wie klein diese waren. Motivierende Hoffnung und das Aufbauen von Vertrauen ohne Fehlschläge zu erzeugen, hängt auch von der Entwicklung von Verstehen ab (siehe Lawson, Attwood, Clements und Zarkowska). Ohne echtes Verstehen werden die Erwartungen scheitern und das Vertrauen wird dann auf so schmerzvolle Art verschwinden, dass dies eventuell gar zu einer permanenten Entmutigung führt. Gelegenheiten für lebenslanges Lernen bereitzustellen ist entscheidend für jeden, der dich auf dem autistischen Spektrum befindet.

Fähigkeit, ein funktionales Maß an Interesseerregung außerhalb des aktuellen Interesses aufrecht zu erhalten
Unter monotropischen Menschen variiert die Fähigkeit, die Interesseerregung außerhalb des fokussierten Ineteresses beizubehalten. Das reduziert das Unbehagen beim Wechsel der Themen und erlaubt es, besser auf unerwartete Eventualitäten vorbereitet zu sein. Wir gehen davon aus, dass begrenzte Aufmerksamkeit es schwerer macht, sowohl tiefe aktuelle Interessen als auch ein solches allgemeines Vorbereitetsein beizubehalten. Eines von beiden wird am Ende meist verloren gehen.
Eine breit verteilte Interessenerregung bietet dagegen die Beweglichkeit, die von Nöten ist, um mit einer sich schnell verändernden Welt fertig zu werden. Ohne eine solche Beweglichkeit kann die Veränderung für einen nicht mehr wahrnehmbar werden, sodass sie auf katastrophale Weise unerwartet erscheint. Veränderungen können zu Episoden führen, bei denen man unwillentlich als Autist erkennbar wird. Wenn dagegen genügend zusätzlich fokussierendes Interesse verfügbar ist, dann können schneller mehrfache Verbindungen zwischen den Interessen aufgebaut werden. Am Ende können umfassender miteinander verknüpfte Interessen entstehen, was die erforderlichen Anstrengungen, sich an die ständigen Veränderungen des Lebens anzupassen, minimiert. Menschen, die diese Beweglichkeit entwickeln, tun dies normalerweise auf Kosten der Tiefe der Aufmerksamkeit und sie können normalerweise mit den Erfordernissen des Lebens so gut zurecht kommen, dass sie sich nicht ungewollt als Autisten zu erkennen geben. Daher kann es sein, dass sie nie eine Diagnose erhalten. Vielleicht sind sie sogar „normal“?

Das Maß, in dem Interessen sozial akzeptiert sind
Monotropische Interessen wie Spucken oder Verschmieren von Exkrementen führen meist zu der Diagnose Kanner-Autismus. Wenn das Interesse einer Person dagegen eher in Richtung Sprachen, Mathematik oder Musik, etc. geht, sieht man in diesen Tendenzen vielleicht eher Karrieremöglichkeiten, sodass hier selbst heute keine Diagnose oder nur die auf Asperger-Syndrom gestellt wird.
Menschen, die sozial weniger akzeptierte Interessen ausbilden, erleben meist schnell und auch wiederholt soziale Ablehnung. Dies entmutigt sie, herauszufinden, was eigentlich sozial vor sich geht. Dabei spielt die Größe der jeweiligen „Gesellschaft“ keine Rolle. Wenn wir den Betroffenen dort abholen, wo er ist, können wir für ihn zu einer bestätigenden Gesellschaft werden. Wenn wir die persönlichen Interessen dieses Menschen dagegen bereits im Anfangsstadium ignorieren und demjenigen auch nicht mit unseren eigenen Interessen vertraut machen, dann kann es sein, dass das Bewusstsein von und das Verständnis für die sozialen Möglichkeiten, die so ein Betroffener hat, erst allzu spät im Leben entstehen. Eine Gemeinschaft wohlwollender Menschen um autistische Personen herum aufzubauen ist jedenfalls allgemein eine verlässliche Langzeitstrategie.


Die Frage, ob ein Interesse an Sprachenwährend der Entwicklungsjahre ein monotropischer Fokus war, wirkt sich auf die wahrscheinliche Diagnose aus. Wenn Sprachen schon ein frühes Interesse gewesen sind, dann wird die jeweilige Person kaum eine Diagnose Kanner-Autismus bekommen, sondern eher eine Diagnose Asperger-Syndrom. Eine solche Person kann ein sehr umfangreiches Vokabular besitzen und in der Lage sein, zu lesen, bevor er Leseverständnis zeigt. Eine solche Person wird über Interessen verfügen, die generell durch linguistische Bedeutung strukturiert sind, sodass ihm ein Großteil der Freiheit verloren gegangen ist, die eigenen Bedeutungen und die eigenen Erfahrungen zu strukturieren. Wir glauben, dass der frühe Spracherwerb und alles, was sich daraus ergibt, einen genuinen und wesentlichen Unterschied innerhalb des autistischen Spektrums darstellt. Er weist auf bestimmte Fähigkeiten hin.
Diejenigen, die sich nicht auf den normalen sprachlichen Austausch eingestellt haben, brauchen Hilfe, um Zugang zu akzeptable Kommunikationsweisen zu bekommen. Nicht-linguistische Denkweisen boten da schon immer besondere Möglichkeiten und sie tun dies auch heute noch.

Schnelligkeit der Interesseerregung: Je schneller die emotionale Interesseerregung einer Person erfolgt, desto geringer die Chance, dass derjenige sie unter Kontrolle halten kann. Monotropisch zu sein bedeutet, dass man meist etwas Zeit braucht, bevor man der Ressourcen, die zur Herstellung der Kontrolle gebraucht werden, Herr wird. Das kann zu auffälligen und nicht akzeptierten Verhaltensweisen führen, die oft explosiv auftreten und diejenigen erschrecken, die sie miterleben. Oft erschreckt aus diejenigen selbst, die sie ausüben und sie führen zum Verlust der Fähigkeit, wirksam mit den Menschen in der Umgebung zu interagieren. Eine solche Situation kann zu katastrophenartigen Folgen führen und die Schädigung oder gar den gänzlichen Verlust der sozialen Fähigkeiten mit sich bringen. Sich auf solche Weise unwillentlich als Autist zu erkennen zu geben enthüllt eine Unfähigkeit, ohne sie zugleich zu erklären: eine entsprechende Erklärung ist daher erforderlich. Der Druck, das Verhalten erklären zu müssen, verschlimmert die Krise aber meist nur noch. Wenn nicht erkannt wird, dass eine gewisse Zeit, um sich zu beruhigen, nötig ist, kann das zu ernsthaften Folgeerscheinungen führen, etwa der Auslösung von Krebs oder Drogenabhängigkeit. Zeitweise geht die Kommunikationsfähigkeit verloren und es kann zum dauerhaften Verlust der Selbständigkeit kommen.
Der Asperger-Ausweis, den Dennis [Debbaudt] bei sich trägt, bietet eine Möglichkeit, in einer solchen Situation auf konstruktive Weise die Lage zu erklären. Noch besser wäre es, Wege zu finden, die entsprechenden Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, damit es zu diesen Situationen erst gar nicht kommt (siehe Clements & Zarkowska, die einige Ideen bieten). Wir müssen erkennen, dass Menschen, die sich in einer solchen Verwirrung befinden, überwältigt sind und keine Kontrolle über ihr Tun haben. Wir müssen anerkennen, dass sie Zeit brauchen, um sich zu beruhigen, und wir müssen entsprechend bei solchen Gelegenheiten den sozialen Druck auf sie verringern.

Höhe der Handlungsschwelle – eine relativ niedrige Handlungsschwelle zu haben, kann bedeuten, dass ein monotropisch erregtes Interesse schnell von einem anderen gefolgt wird. Das Handeln setzt die Erregung frei und reduziert die Aktivierung in einem Interessengebiet, sodass ein anderes Interesse dessen Platz einnehmen kann, eine Handlung auslöst und sich dasselbe Muster wiederholt. Ein unerwünschtes Ergebnis davon kann sein, dass eine Handlung erfolgt, die nicht ausreichend ist, um ein Interesse bzw. eine Aufgabenstellung abzuschließen oder befriedigend zu lösen, bevor man zum nächsten Punkt kommt. Ein Vorteil dagegen kann sein, dass man eine Vielzahl von Reizen erkennt und darauf reagiert. Menschen mit einer solchen Disposition erhalten eventuell eine Diagnose auf Aufmerksamkeitsstörung.

Emotionaler Charakter– dies ist vielleicht einer der entscheidensten Faktoren beim Lernen: Menschen forschen und lernen nicht, wenn sie wütend, ängstlich oder depressiv sind. Die Gefühle werden so extrem sein, wie es die monotropischen Dispositionen des Betroffenen vorgeben. Diese Gefühle werden meist nicht auf die Gefühle anderer eingestellt sein und sie werden kaum auf sozial akzeptable Weise präsentiert. Das bedeutet aber weder, dass diese Betroffenen keine Gefühle kennen noch, dass ihnen die Gefühle anderer nicht bewusst sind. Sie können so sensibel sein, dass das völlige Vermeiden selbst positiver Gefühle, die ihnen von anderen entgegengebracht werden, für ihnen als die bessere Wahl erscheint.
Sie werden oft von diesen starken Gefühlen zu Verhaltensweisen getrieben, die Außenstehende unangenehm berühren, weil diese Verhaltensweisen sozial nicht angepasst sind und daher den aktuellen sozialen Erwartungen nicht entsprechen. Wie Dennis in seinem Kapitel betont, ist es dann vernünftig, auf solche ungewöhnlichen Verhaltensweisen nicht mit Wut oder Hektik zu reagieren. Diese Gefühle sind, selbst wenn sie in Form von Wut geschehen, ein Zeichen dafür, dass es im Leben des Betroffenen eine bestimmte Bedeutung gibt. Diese Bedeutung ist dafür verantwortlich, dass es in unserem Leben so etwas wie Depression gibt. Die beste Art, dies zu verhindern, ist es wohl, sicherzustellen, dass die Menschen Gelegenheit haben, denjenigen Interessen nachzugehen, die ihnen Zufriedenheit verschaffen (Attwood, Oasis…).